Verfahren der Anamnesis: Erinnerung an den Holocaust in Ostmitteleuropa nach 1990

Verfahren der Anamnesis: Erinnerung an den Holocaust in Ostmitteleuropa nach 1990

Organisatoren
Prof. Dr. Magdalena Marszałek, Institut für Slawistik, Humboldt-Universität zu Berlin; Dr. Alina Molisak, Institut für Polnische Literatur, Universität Warschau
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.05.2008 - 24.05.2008
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Von
Michael Zgodzay

Die Tagung "Verfahren der Anamnesis: Erinnerung an den Holocaust in Ostmitteleuropa nach 1990", gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung und den DAAD, hat vom 22.05.-24.05.2008 im neuen Haus des Berliner Collegium Hungaricum stattgefunden. Als Referenten und Moderatoren haben sich an der Tagung Vertreter/innen unterschiedlicher Disziplinen (Geschichte, Anthropologie, Soziologie, Literatur- und Kunstwissenschaft) beteiligt, um über die aktuellen Erinnerungsstrategien an den Holocaust in ostmitteleuropäischen Staaten (Polen, Slowakei, Tschechien, Ukraine, Ungarn) in vergleichender Perspektive zu diskutieren. Ein wichtiges Anliegen der Tagung war es, eine interdisziplinäre Diskussion über die nationalen Grenzen hinweg zu führen, und zwar im Austausch zwischen den Wissenschaftler/innen aus den jeweiligen Ländern sowie den 'auswärtigen' Spezialisten.

Bereits die Filmvorführung zum Auftakt der Tagung, in der vier künstlerische Produktionen (video art) aus Polen und Ungarn gezeigt wurden, führte auf prägnante, zum Teil provokative Art und Weise in die aktuellen medialen Auseinandersetzungen mit der 'späten' Erinnerung ein. Dabei wurde deutlich, dass die aktuelle Videokunst nicht nur die Erinnerung an den Holocaust selbst thematisiert, sondern auch die historischen Überlagerungen der medial vermittelten Gedächtnisse reflektiert, die in Prozessen des Erinnerns und der Verdrängung entstanden sind. Somit zeigt sich die 'späte' Erinnerung stets als an die Aufarbeitung der politischen und historischen Bedingungen des Erinnerns bis 1989 geknüpft, wie etwa im Film von Yael Bartana "Alpträume" ("Mary – koszmary", Israel/Polen 2007), in dem gegenwärtiges Umdenken der polnisch-jüdischen Geschichte ikonographisch und rhetorisch auf kommunistische Distribution von Bildern und Gesten anspielt. Im Zentrum der anderen Filme stand die jüngere Generation, die sich kritisch ("Der Pole im Schrank" von Artur Żmijewski, Polen 2007) oder investigativ ("Urlicht" von Diana Groó, Ungarn 2006) mit dem Medium Bild entweder als Manipulationsobjekt oder als problematische 'Metapher der Wahrheit' auseinandersetzt.

Visuelle Strategien der Erinnerung wurden im ersten Panel der Tagung nach der Filmvorführung behandelt. GYÖRGY FEHÉRI wies am Beispiel von Ungarn einerseits auf die grundsätzliche Problematik der Notwendigkeit der Integration der Shoah in das kollektive Gedächtnis (nationale Geschichte) – ohne usurpatorische Vereinnahmung – und andererseits auf die nach wie vor aktuelle Frage der Holocaust-Darstellung hin. Unterstrichen wurde der mögliche Weg des Erinnerns in Form einer "positiven Traumatisierung", die jedoch immer wesentlich von der Anwesenheit der Zeugen abhängt. Es stellt sich die Frage nach den kommenden Transformationen des Gedächtnisses, wenn das durch die Zeugen gegebene 'Korrektiv' zunehmend fehlt. TOMASZ ŁYSAK gab einen Überblick über die Stationen literarischer und vor allem filmischer Thematisierung des Holocaust in Polen seit dem Essay von Jan Błoński "Die armen Polen schauen aufs Ghetto" (1987), darunter über die Strategien der 'Wahrheit' im Dokumentarfilm und deren kontroversen Hinterfragung in der 'radikalen' Videokunst.

Im Mittelpunkt der Tagung standen die heutigen Dynamiken der Erinnerung an den Holocaust in den jeweiligen Ländern im Kontext der Transformationen des sozialen, kulturellen und politischen Gedächtnisses seit den 1990er-Jahren. Die Panels zu den länderspezifischen "memory troubles" wurden von einem Gastvortrag des Historikers STEFAN TROEBST zu "postkommunistischen Erinnerungskulturen" eingeleitet. Die Referate und Diskussionen konzentrierten sich auf die konfligierenden Momente in den heutigen Gedächtniskulturen Ostmitteleuropas, auf die diskursiven und erinnerungspolitischen Aspekte der aktuellen memorialen Prozesse sowie auf die Fortschritte und Defizite in der jeweiligen Forschung. Es wurden auch einige Beispiele künstlerischer Interventionen, didaktischer Projekte oder aber des institutionalisierten Gedenkens vorgestellt.

Das Panel zu polnischen "memory troubles" führte über die in Deutschland relativ gut bekannten aktuellen Debatten in Polen um das polnisch-jüdische Verhältnis während des Holocaust – in Folge der beiden Publikationen von Jan T. Gross ("Nachbarn" und "Fear") – hinaus und thematisierte weniger bekannte Aspekte der heutigen Erinnerung: STANISŁAW OBIREK verwies auf die nach wie vor unzureichende Auseinandersetzung mit dem Holocaust innerhalb der katholischen Theologie und somit auf ein grundlegendes Defizit, welches sich auf die Positionierung der polnischen Kirche in den aktuellen Debatten (und somit auf die Debatten selbst) auswirkt. ERICA LEHRER hat wiederum die Frage nach einem möglichen jüdisch-polnischen "versöhnlichen Erbe" aufgeworfen, ausgehend vom Beispiel heutiger Praktiken des Umgangs mit dem jüdischen Erbe und der Begegnungen zwischen Juden und Polen im ehemaligen jüdischen Stadtteil von Krakau, Kazimierz, die sie aus ethnologischer Mikroperspektive untersuchte. Ihr Konzept des "heritage as practice" erlaubt es, das Phänomen 'Kazimierz' in seiner Ambivalenz wie auch in seinem positiven Potential jenseits von pauschalisierender Kritik ('jüdisches Disneyland') oder Affirmation ('Wiedergeburt der jüdischen Kultur') zu betrachten. Der Bericht des Historikers JAN GRABOWSKI über die Arbeit des im Jahre 2003 gegründeten Zentrums für die Holocaustforschung in Warschau veranschaulichte nicht nur die neue Dynamik in der Entwicklung dieser Forschung in Polen der letzten Jahre; vielmehr zeigte er auch, wie viel noch an historisch-rekonstruktiver und interpretativer Arbeit geleistet werden muss, will man sich dem Ziel einer Überbrückung der geteilten, stark voneinander differierenden 'polnischen' und 'jüdischen' Erinnerung annähern.

Gerade im Kontrast zu der avancierten Diskussion der polnischen Erinnerungsprobleme kam die Marginalisierung des Holocaust in den heutigen ukrainischen Auseinandersetzungen um das historische Gedächtnis als Fazit der Beiträge der beiden ukrainischen Teilnehmer (LEONID FINBERG, ANATOLY PODOLSKY) dramatisch deutlich zum Vorschein. Leonid Finberg verwies zum Schluss seiner Analyse der Asymmetrie im Gedenken an den Holodomor und den Holocaust in der heutigen Ukraine auf ein Faktor, der in der 'westlichen' Kritik häufig übersehen wird, nämlich auf die Zeit, die eine sich erst seit kurzem demokratisch und national neu formierende 'postsowjetische' Gesellschaft braucht, um sich der schwierigen Vergangenheit zu stellen: Die polnische Gesellschaft – so Finberg – brauchte etwa 60 Jahre, um über Jedwabne öffentlich sprechen zu können.

Eine slowakische 'Unfähigkeit zu trauern' analysierte PETER ZAJAC in seinem Vortrag über den Film von Dušan Hudec "Liebe deinen nächsten ..." von 2004, der den Pogrom in Topolčany von 1945 thematisierte und eine große Diskussion im Lande hervorgerufen hat. Mit seinem Fazit zum Paradox der slowakischen Erinnerungskultur nach 1989 – "man schweigt, um den Holocaust zu beenden und gerade dadurch trägt man dazu bei, dass der Holocaust nicht endet" – zeigte Peter Zajac auf einen wunden Punkt der Erinnerung, der gewiss nicht nur auf die postkommunistischen Erinnerungskulturen zutrifft. Im Referat zu tschechischen "memory troubles" unterstrich ANNA HÁJKOVÁ den weniger (z.B. im Vergleich zu Polen) konfligierenden Charakter der Erinnerung an den Holocaust in Tschechien, bei dem sie aber eine Strategie der "Sentimentalisierung" diagnostizierte.

Die beiden Beiträge zur ungarischen Erinnerung (ÁGNES BERGER, MAGDALENA MARSOVSZKY) veranschaulichten die – nicht nur für Ungarn – signifikante Diskrepanz zwischen den zivilgesellschaftlichen und den institutionellen Formen und Zielen des Erinnerns an den Holocaust im postkommunistischen Europa. Während Ágnes Berger über die durchaus erfolgreiche Einführung der künstlerischen Initiative "Stolpersteine" in Ungarn berichtete, analysierte Magdalena Marsovszky kritisch die Strategie der Zusammenführung des Erinnerns an die faschistische und die kommunistische Gewalt am Beispiel des Budapester Museums Haus des Terrors.

Im letzten Teil der Tagung konzentrierten sich die Referate auf die Kunst und die Literatur als Medien der Erinnerung. Es zeigte sich, dass insbesondere die bildende Kunst heute die Effekte der zunehmenden Medialisierung des Gedächtnisses aufgreift und operativ umsetzt. Wie CATHARINA WINZER im Vortrag zur polnischen Kunst feststellte, agiert die Kunst in Polen gleichsam in zwei Erinnerungs-Paradigmen, einer 'europäischen' (z.B. Zbigniew Libera), die an die universale Auschwitz-Symbolik anknüpft, und einer 'lokalen' (z.B. Wilhelm Sasnal), die sich als Gedächtnis-Intervention 'vor Ort' versteht. MAGDALENA MARSZAŁEK wies ebenfalls auf die auffallende Beschäftigung mit dem Gedächtnis 'aus zweiter Hand' in der Kunst hin, die auch – viel stärker als die Literatur dies tut – mit der zum Teil provokativen Durchleuchtung der Gedächtnispraktiken in der 'späten' Phase des Erinnerns arbeitet.

Weitere Panels beschäftigten sich mit der Welle der Erinnerungsliteratur in den 1990er-Jahren in Polen und Tschechien (ALEKSANDRA UBERTOWSKA, ZUZANA JÜRGENS) und mit den Strategien der Artikulation jüdischer Erinnerung in den ostmitteleuropäischen, 'postmemorialen' (sprich: in den sich vor dem Hintergrund einer langen politischen Tabuisierung entwickelnden) Literaturen. ALINA MOLISAK machte auf das Phänomen des 'mediumistischen' Sprechens in der polnischen Literatur aufmerksam, und FERENC ERŐS verwies auf die Bedeutung der Prosa von Imre Kertész für die Überwindung einer "Sprache der Andeutung" in der ungarischen Literatur, die lange Zeit die einzige Artikulationsmöglichkeit der jüdischen Stimme darstellte. BARBARA BREYSACH diskutierte am Beispiel von Vladimir Vertlieb die Überschreitung des Identitäts-Paradigmas in der Literatur der sogenannten dritten Generation.

Wie aktuell und facettenreich das Thema der Erinnerung an den Holocaust für die Gesellschaften Ostmitteleuropas ist – angesichts der nicht selten eruptiven und dramatischen, nicht zuletzt durch die politische Transformation bedingten Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit und ihrem Nachwirken –, zeigten nicht nur die während der Tagung vorgetragenen Beiträge, sondern auch die in den Diskussionen verhandelten, zum Teil auch kontroversen Fragen. Auch wenn die Konturierung der erinnerungspolitischen Konflikte wie auch der Stand der Forschung und das mediale (darunter künstlerische oder literarische) Interesse sich in den jeweiligen Ländern durchaus unterschiedlich gestalten, kamen in der Diskussion viele Gemeinsamkeiten der heutigen Gedächtniskulturen in Ostmitteleuropa deutlich zum Vorschein: konkurrierende Viktimisierung ethnischer Gruppen, Spannungen zwischen zivilgesellschaftlichen und institutionellen Erinnerungsinitiativen, transgenerationelle Überlieferungsbrüche. Bedingt durch die Erfahrung der beiden Totalitarismen, durch die manipulative Geschichtspolitik zu Zeiten des Realsozialismus, durch die gesellschaftspolitische und kulturelle Neudefinierung in Folge demokratischer Transformation, steht die Erinnerung an den Holocaust in Ostmitteleuropa heute im dynamischen Zusammenhang mit den aktuellen Umdeutungen des historischen Selbstverständnisses, der nationalen und regionalen Identitäten, mit der zivilgesellschaftlichen Neuformierung – und nicht zuletzt mit der zunehmenden Medialisierung des kulturellen Gedächtnisses. Die Relevanz der Transformationen des historischen Gedächtnisses wie auch die Relevanz seiner kulturellen Verwertung und Tradierung sowie der politischen Indienstnahme im postkommunistischen Europa wird besonders deutlich angesichts der heutigen Debatten um ein gesamteuropäisches Paradigma der Erinnerung an den Holocaust.

Kurzübersicht:

Panel 1: Visualizations (Moderation: Sylvia Sasse, Berlin; Ágnes Berger, Berlin)
György Fehéri (Berlin): Du sollst dir (k)ein Bildnis machen! Verschiedene Wege der Erinnerung an den Holocaust im ungarischen Film nach 1989
Tomasz Łysak (Warschau): Strategies of recall in Polish post-1989 documentary and artistic films on the Holocaust

Gastvortrag (Moderation: Christian Voss, Berlin)
Stefan Troebst (Leipzig): Temperaturunterschiede? Postkommunistische Erinnerungskulturen im östlichen Europa

Panel 2: Memory troubles / Poland (Moderation: Getrud Pickhan, Berlin; Alina Molisak, Warschau)
Stanisław Obirek (Łódź): The Holocaust as a disturbing element for the Polish mythology
Erica Lehrer (Montreal): Can there be a conciliatory heritage? Krakow's Kazimierz
Jan Grabowski (Ottawa): Polish-Jewish relations in the light of the recent and upcoming research projects of the Polish Center for Holocaust Research

Panel 3: Memory troubles / Czech Republic, Slovak Republic (Moderation: Franziska Bruder, Berlin; Wilfried Jilge, Leipzig)
Anna Hájková (Toronto): "Jene großen Kinderaugen, viel zu früh verloschen": Die Sentimentalisierung des Holocaust im tschechischen kollektiven Gedächtnis
Peter Zajac (Berlin): "Holocaust nach dem Holocaust": Das Pogrom in Topolčany – Realität und Erinnerung, 1945/2006

Panel 4: Memory troubles / Ukraine (Moderation: Franziska Bruder, Berlin; Wilfried Jilge, Leipzig)
Leonid Finberg (Kiew): Memory of the Holocaust in Ukraine in 1991 – 2007
Anatoly Podolsky (Kiew): Holocaust Commemoration in Ukraine

Panel 5: Memory troubles / Hungary (Moderation: György Fehéri, Berlin; Stanisław Obirek, Łódź)
Magdalena Marsovszky (München): Verfahren der Anamnesis am Beispiel des "Haus des Terrors" in Budapest – mit Blick auf die Methodologie der Holocaustforschung in Ungarn
Ágnes Berger (Berlin): Erinnerungskultur und Zivilengagement in Ungarn: Rezeption der Kunstaktion "Stolpersteine" in Budapest und auf dem Lande

Panel 6: Mnemonics (Moderation: György Fehéri, Berlin; Heike Winkel, Berlin)
Catharina Winzer (Bonn/Basel): "Lokal erinnern, europäisch denken"? Merkmale der Erinnerung an den Holocaust in der polnischen Gegenwartskunst
Magdalena Marszałek (Berlin): Bilder und Texte: Explorationen des Gedächtnisses um 2000

Panel 7: Testimony – Autobiography – Fiction (Moderation: Jeanette Fabian, Berlin; Magdalena Marszałek, Berlin)
Aleksandra Ubertowska (Gdańsk): Autobiographie als Zeugnis weiblicher Kriegserfahrung: Frauenperspektive in polnischer Holocaust-Literatur
Zuzana Jürgens (Prag/Berlin): Vom Zeugen der Geschichte zu ihrem Erben: Holocaust in der tschechischen Literatur der 1990er-Jahre

Panel 8: Identities (Moderation: Miranda Jakiša, Berlin; Daniel Weidner, Berlin)
Ferenc Erős (Budapest): Jewish identity and the "language of allusion" in Hungarian literature and film
Barbara Breysach (Olsztyn): Vladimir Vertlieb: Jüdisches Schreiben nach dem Holocaustdiskurs der 1980er und 1990er Jahre
Alina Molisak (Warschau): Schreiben im Auftrag der Toten: Mediumistische Schreibkonzepte in der polnischen Literatur der 1990er-Jahre


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